IV
Seine Bitte, mich zeichnen zu dürfen, kam unerwartet. Ich wusste bisher gar nicht, dass er zeichnet, habe nie ein Bild von ihm gesehen. Ist jetzt auch nicht die typische Eigenschaft eines Informatikers, Frauen zu zeichnen. Und ich halte mich jetzt auch nicht gerade für die Schönheit, der die Männer auf der Straße hinterherlaufen, damit sie ein Foto machen können, geschweige denn eine Zeichnung. Überhaupt habe ich mich nur zweimal zeichnen lassen, das war einmal in Paris auf einer Klassenfahrt und einmal auf einem Weihnachtsmarkt, beides jeweils als Geschenk für meine Mutter.
Dementsprechend muss wohl mein Blick in der ersten Sekunde ausgesehen haben, nachdem er mich fragte.
"Was?"
"Ich möchte ein Portrait von dir zeichnen." sagte er mit einem Lächeln.
- "Machst du das öfter?"
"Nein, ich zeichne sonst eher Gebäude. Willst du mal sehen?"
Er rutscht zu mir herüber und hat irgendwo eine Mappe her, die er öffnet. Augenblicklich verschlägt es mir die Sprache. Das erste Bild ist ein Blick über unsere Stadt von einer erhöhten Position aus.
Eine feine Bleistiftzeichnung, jeder Strich auf seine Weise die pure Perfektion in sich. Atemberaubende Schattierungen, unglaubliche Details, fast wie eine schwarz-weiß-Fotografie.
"Ich wusste gar nicht, dass du so gut zeichnest...." beginne ich.
- "Hab's dir auch nie erzählt." sagt er grinsend.
Ich blättere weiter. Nach einigen Städtebildern sehe ich das Bild eines Bettlers an einer Einkaufspassage. Es gibt ja viele Menschen, die unglaublich gut Stillleben und Gebäude zeichnen können, aber keinen Menschen hinbekommen. Bei ihm ist das anders. Dieser Mann scheint fast aus dem Bild heraus zu kommen. Unglaublich.
Ich blättere weiter und sehe die anderen Bilder an. Über das eine oder andere unterhalten wir uns länger, manche werden einfach nur mit "Wow" kommentiert.
"Na gut, okay. Aber keine Karikatur!" sage ich schließlich grinsend und er setzt sich zufrieden mit einem Blatt und einem Bleistift bewaffnet an die Bettkante.
"Soll ich irgendwas Bestimmtes machen?" frage ich.
- "Du sollst das tun, was du eigentlich dein ganzes Leben lang tun solltest: Lächeln."
Dieser alte Poet. Ich grinse, schüttle innerlich amüsiert den Kopf und widme mich wieder meinem Buch.
"Aber so kann ich mich doch nicht auf mein Märchen konzentrieren..."
- "Dann erzähl mir, was du liest."
Ich hatte gerade das zweite mal Rapunzel angefangen und erzähle ihm die Geschichte. Zum Schluss gebe ich noch einige Interpretationsmöglichkeiten aus psychologischer Sicht an. Fasziniert blicke ich immer wieder zur Seite zu ihm, kaum glaubend, wie er es hinbekam, zu zeichnen, mir dabei aber zuzuhören und immer wieder auf mein Gesagtes eingehen zu können. Ironisch denke ich in mir: "Ich dachte immer, ihr Männer habt's nicht so mit Multitasking..."
Ich blicke auf seine feinen Hände mit dem Armband und muss für einen Moment an den Sex mit ihm denken. "Nach vorn schauen." unterbricht er meine Gedanken und ich drehe den Kopf grinsend wieder nach vorn.
Als er fertig ist, rutscht er zu mir herüber, setzt sich neben mich und hält das Bild vor uns.
"Oh mein Gott, das ist unglaublich...."sage ich nur und streiche sanft mit den Fingern am Rand entlang, mich nicht trauend, darüber zu fahren.
Ich lasse meinen Blick über die Gesichtszüge meines Portraits gleiten, vergleiche sie in Gedanken mit Fotos von mir. Ich blicke über die langen schwarzen Haare, die bis über die Schultern fallen, die astrein gerade Nase, die vollen Lippen und die ausladenden Wangen, die ich schon als Teenager viel zu dick fand.
Dies ist definitiv das beste Portrait von mir, das es gibt.
"Für dich" flüstert er und küsst meine Schulter. Ich habe das Bedürfnis, ihn festzuhalten und nie wieder loszulassen. Ich lege das Bild auf den Nachttisch und falle ihm mit einem langen Ausatmen um den Hals. "Du bist unglaublich." sage ich immer wieder.
"Einfach unglaublich."
fjenlyn am 06. Februar 13
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