Reality
Ich kannte mich nie besonders gut mit Fotografie aus. Also, das heißt, ich kann auf den Auslöser einer Kamera drücken. Ich weiß, dass man Personen nicht an den Knien "abschneiden" sollte, wenn man sie fotografiert. Ich kann schöne Bilder von ungünstigen unterscheiden. Aber ich würde nie behaupten, ich wäre im Schießen von Fotos talentiert oder irgendwie übermäßig begabt.

Dass er während des Spazierganges die Kamera plötzlich auf mich richtete und ein gezieltes Mal abdrückte, kam unerwartet. Ich dachte bis dahin eher, er steht auf Landschaftsaufnahmen; Menschen zu fotografieren ist doch nochmal eine andere Herausforderung als etwas, das immer still hält... "Natur kann doch jeder fotografieren." würde er später zu mir sagen...

Ich bin nicht besonders fotogen. Mitunter sehe ich aus wie ein Monster aus den Tiefen von Freuds Seele, wenn man mich im falschen Moment erwischt. Dementsprechend muss wohl mein Blick in der ersten Sekunde ausgesehen haben, nachdem er mich fotografierte.

"Was? Ich möchte ein paar Fotos von dir machen!", sagte er mit einem Lächeln.

- "Machst du das öfter?"

"Nein, nur manchmal auf Feiern. Willst du mal sehen?" Er zeigt mir ein paar Aufnahmen, die er auf verschiedenen Familienfeiern von seiner Familie geschossen hat. Feine Details, deren Zusammenstellung von Perfektion singen, ein scharf umrissener Fokus, immer da, wo er sein soll, elegant eingesetzte Unschärfe... "Wow...." begann ich. "...Wie lange machst du das schon?"
"Och, ein paar Jahre."
- "Eher nach Gefühl oder richtig mit Wissen?"
"Ich würde meinen, ich habe mehr gelesen, als viele Fotografen." Er grinste mich an.

- "Na gut, okay. Aber keine doofen Schnappschüsse!" sagte ich schließlich grinsend und wir gingen weiter.
- "Soll ich irgendwas Bestimmtes machen?" fragte ich.
"Du sollst das tun, was du eigentlich dein ganzes Leben lang tun solltest: Lächeln."
Dieser alte Poet. Ich grintse, schüttelte innerlich amüsiert den Kopf und fing irgendein Gespräch mit ihm an. Während wir so durch den Park schlenderten und uns über dies und jenes unerhielten, schoss er immer mal ein paar Fotos von mir, wie ich eine Ente mit Berot füttere, wie ich über den See blicke, wie ich mich verträumt vor dem schönen Schloss gegen einen Baum lehne...Und nebenbei führe er das Gespräch mit mir weiter. Ironisch dachte ich in mir: "Ich dachte immer, ihr Männer habt's nicht so mit Multitasking..."
Ich blickte auf seine feinen Hände, die die unglaublich große und schwere Kamera halten, sein "Eisenschwein", und musste für einen Moment an den Sex mit ihm denken. "Woran denkst du?" unterbrach er meine Gedanken. Ich schüttelte nur grinsend den Kopf und blickte weiter über den See.

Zu Hause sah ich mir die Fotos an, die besten mittlerweile noch ein wenig bearbeitet.
"Oh mein Gott, das ist unglaublich...."sagte ich nur.
Ich ließ meinen Blick über die Gesichtszüge eines Portraits gleiten, verglich es in Gedanken mit meinem Spiegelbild. Ich betrachtete die langen schwarzbraunen Haare, die weit bis über die Schultern fallen, die astrein gerade Nase, die vollen Lippen und die ausladenden Wangen, die ich schon als Teenager viel zu dick fand. Dies ist definitiv das beste Portrait von mir, das es gibt.
"Ich lasse es drucken und besorge noch einen Bilderrahmen.", sagte er und küsste meine Schulter. Ich dachte daran, dass mich die ganze Situation an irgendetwas erinnert und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn festzuhalten und nie wieder loszulassen. Mit einem langen Ausatmen fiel ich ihn um den Hals. "Du bist unglaublich." sagte ich immer wieder.

"Einfach unglaublich. - Und ich bin froh, dass du nun meine Wirklichkeit bist."